Corona-Supportpost - Teil 4: Radikale Akzeptanz

 

Viele von uns erleben dieser Tage eine wahre Gefühlshochschaubahn. Kennt ihr das, dieses Schwanken zwischen Zuversicht und Besorgnis, zwischen Hoffnung und Angst, zwischen Anspannung und Gelassenheit? Manchmal überwiegen die positiven Aspekte, manchmal auch die unangenehmen und manchmal kann sogar beides gleichzeitig vorhanden sein.

 

In der derzeitigen Situation lassen uns vielleicht immer noch steigende Infektionsraten, die Häufung von Todesfällen in unseren Nachbarländern, unsere möglicherweise vorhandene Existenzangst usw. nur allzu leicht ins Bedrohungssystem unseres Gehirns kippen - und von diesem roten Bereich wieder in den grünen zu kommen, ist mitunter gar nicht so einfach.

 

Ganz besonders dann nicht, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind und unsere Grübel- oder Sorgenteufelskreise im Hintergrund unseres Gewahrseins vor sich hin plätschern... Bis sie vielleicht irgendwann ein Ausmaß erreichen, an dem die Dämme brechen und wir von schwierigen Gefühlen überflutet werden: Verzweiflung, Zorn, Hilflosigkeit, Abwehr, Ohnmacht, Panik oder was auch immer die Gefühlspalette sonst gerade so im Angebot hat, sprudeln an die Oberfläche.
Und nur allzu oft kritisieren wir uns auch noch für unsere Gefühle und reden uns ein, wir dürften nicht so empfinden, nicht so schwach sein oder nicht so sensibel, nicht so ängstlich oder gereizt,... Das bringt dann das Bedrohungs- und Vermeidungssystem so richtig in Schwung.

 

Eine wirkungsvolle Möglichkeit, solchem Geschehen etwas entgegenzusetzen und unser Bindungs- und Fürsorgesystem zu aktivieren, ist das, was die amerikanische Psychologin und Vipassana-Lehrerin Tara Brach "Radikale Akzeptanz" nennt: sie begegnet unseren schwierigen Gefühlen an der Wurzel, macht sie sicht- und spürbar und ermöglicht uns damit, anzuerkennen was sich in uns abspielt - BEVOR Schwieriges sich aufzustauen beginnt und wie eine Flutwelle über uns hereinzubrechen droht. Indem wir schonungslos (an-)erkennen, was tatsächlich in uns vorgeht, nehmen wir den Gefühlen einen guten Teil ihrer Macht. Wir steigen aus dem reaktiven Modus aus und sind dann weder gezwungen, sie weiter zu unterdrücken, noch sie auszuagieren (z.b. indem wir ausflippen, zusammenbrechen oder im Selbstmitleid versinken).

 

"Radikale Akzeptanz kehrt unsere Gewohnheit um, mit unvertrauten, erschreckenden oder intensiven Erfahrungen im Kriegszustand zu leben. Sie entsteht durch das Kultivieren von Achtsamkeit und Mitgefühl."

 

Ein Einstieg, der sich auch für Ungeübte wunderbar anbietet ist eine kleine informelle Praxis: mehrmals am Tag kurz innehalten und sich fragen: "Wie geht's mir grad? Was ist jetzt da an Stimmungen und Gedanken?" ist ein guter Anfang - und ein Aspekt von Achtsamkeit.
Sich dann einfach ein wenig Zeit lassen und den Antworten erlauben, von selbst aufzusteigen - und hinter jede Antwort, egal ob sie uns gefällt oder nicht, ein "...und das ist ok." setzen.
Das ist der Aspekt des (Selbst-) Mitgefühls: auch wenn wir schwierige Gefühle erfahren, erlauben wir ihnen ein paar Momente lang, da zu sein und erkennen sie an - sogar (oder besser ganz besonders), wenn wir diese Gefühle nicht mögen, schon allein dadurch verlieren sie oft einen großen Teil ihrer Bedrohlichkeit. Und wenn wir ihnen dann noch mit einer warmen, zugewandten inneren Stimme begegnen, die vielleicht etwas sagt wie: "Ah, da bist du also wieder, innere Unruhe... Ich mag dich zwar nicht, aber ich lass dich mal kurz auf Besuch kommen... Nur für einen Moment, oder zwei. Du bist ja ohnehin da, jetzt spüre ich dich also und es ist ok...", dann - ja, dann kann es gut sein, dass die innere Unruhe (oder was auch immer gerade präsent ist) sich schon ausreichend gesehen fühlt und ein wenig schrumpft.
Und je länger bzw. öfter wir mit diesen Gefühlen sind, anstatt sie wegzuschieben oder zu verleugnen, umso milder und erträglicher werden sie.

 

Im MBCT-Kurs z.b. setzen wir uns mit dieser Thematik ab Kurseinheit 5 auch in formellen Meditationen auseinander, also zu einem Zeitpunkt, an dem schon bestimmte Fertigkeiten trainiert wurden und uns gewisse Verankerungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Die Erfahrung zeigt aber, dass diese sanfte Variante des immer-wieder-bei-uns-selbst-eincheckens auch für Neueinsteiger*innen geeignet ist.

 

Wer's ausprobieren mag und dann vielleicht Fragen hat, ist herzlich eingeladen, sich bei mir zu melden! Vielleicht unterstützen euch auch folgende Beispiele aus meinem momentanen Alltag, mit dieser Art von Innenschau und Selbstakzeptanz zu experimentieren 😉:

 

"Da ist gerade Hilflosigkeit...
... und das ist ok."

 

"Ich spür diese Unruhe...
... und das ist ok."

 

"Oh, jetzt gerade ist es still und warm in mir...
... und das ist ok."

 

"Ich glaub, ich krieg gleich den Lagerkoller... Da sind Gereiztheit, Anspannung und Ungeduld...
... und das ist ok."

 

"Das Gefühl von Zuversicht taucht auf...
... und das ist ok."

 

"Ich bemerke Traurigkeit...
... und das ist ok."

 

"Ich will das alles eigentlich gar nicht so deutlich spüren...
...und das ist ok."

 

 

"Da bemerk ich ein Magenknurren - ich freu mich aufs Abendessen!
... und das ist ok."